6. Oktober 2022

Die Buchtipps der Schwalbacher Zeitung

Lesestoff

„Tomás Nevinson“ aus der Feder des unlängst verstorbenen Javier Marías ist eine meisterhafte Mischung von Spionageroman, erotischem Abenteuer und moralischer Reflexion. „Das Leben vor uns“ von Kristina Gorcheva-Newberry verwebt die letzten Jahre der Sowjetunion mit dem Schicksal einer verlorenen Jugend. Mit seinem 2020 in der Ukraine erschienenen Buch „Radio Nacht“ präsentiert Juri Andruchowytsch einen Gegenwartsroman von eminenter Aktualität.

 

„Tomás Nevinson“

Eigentlich hat Tomás Nevinson mit dem Geheimdienst abgeschlossen. Doch sein ehemaliger Chef verführt ihn mit einem neuen Auftrag: Nevinson soll in einer spanischen Kleinstadt eine Terroristin, die sich an früheren Anschlägen der ETA und der IRA beteiligt hat, aufspüren und beseitigen. Als er mit einer Frau, die als Zielperson in Frage kommt, eine Beziehung eingeht, gerät er in Gewissenskonflikte. Lassen sich Schuld und Unschuld zweifelsfrei erkennen? Und darf man einen Menschen töten, um ein größeres Verbrechen zu verhindern?

Javier Marías, 1951 als Sohn einer Lehrerin und eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller „Mein Herz so weiß“ gilt er weltweit als beachtenswertester Erzähler Spaniens. Zuletzt erschien sein Roman „Berta Isla“. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.

Javier Marías: „Tomás Nevinson“
Übersetzt von Susanne Lange
S. Fischer, 2022. 736 Seiten, 32 Euro.

 

„Das Leben vor uns“

Was bedeutet es, in den letzten Jahren der Sowjetunion erwachsen zu werden –  in einem Staat kurz vor dem Zerfall? Dieser Roman verwebt auf beeindruckende Weise die turbulente Geschichte eines Landes mit dem Schicksal einer verlorenen Jugend und erzählt dabei von einer unerschütterlichen Freundschaft zweier Mädchen zwischen Unsicherheit und Aufbruch.

Anja und ihre beste Freundin Milka wachsen in den Achtzigerjahren am Stadtrand von Moskau auf. Während ihre Eltern gezeichnet sind von den Entbehrungen der Vergangenheit, blicken die beiden Mädchen einer Zeit der Umbrüche und Reformen entgegen. Frech und lebenshungrig versuchen sie, jeden Schnipsel westlicher Popkultur in die Finger zu kriegen. „We Are the Champions“ ist für sie mehr als nur ein Lied, es ist eine Parole. Aber Anjas Jugend nimmt durch eine unerwartete Tragödie ein jähes Ende – und gleichzeitig der Staat, der ihr Zuhause bedeutet hat. Noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beschließt sie, zum Studieren in die USA zu gehen und dort zu bleiben. Doch beim Versuch, sich im Sehnsuchtsland ihrer Jugend eine neue Heimat aufzubauen, merkt sie, dass sich die eigene Herkunft nicht einfach abschütteln lässt und ein Neuanfang nur möglich ist, wenn die Geister der Vergangenheit begraben sind.   

Kristina Gorcheva-Newberry wuchs in Moskau auf, studierte dort an der Staatlichen Linguistischen Universität und arbeitete anschließend als Lehrerin und Dolmetscherin, bevor sie in die Vereinigten Staaten emigrierte, wo sie außerdem Englisch und Kreatives Schreiben studierte. Ihre Kurzgeschichten wurden mehrfach ausgezeichnet, „Das Leben vor uns“ ist ihr erster Roman.

Kristina Gorcheva-Newberry: „Das Leben vor uns“
Übersetzt von Claudia Wenner
C.H. Beck, 2022. 359 Seiten, 25 Euro.

 

„Radio Nacht“

Als „Barrikadenpianist“ hat er die Revolution zu Hause unterstützt. In der Emigration verdient er sein Geld als Salonmusiker: Josip Rotsky, ein Mann unklarer Identität, dessen Name sich auf Trotzki, Brodsky und Joseph Roth reimt. In einem Schweizer Hotel muss er für den Diktator seines Landes spielen – und wird zum Attentäter.  

Nach der Haft zieht Rotsky sich in die heimatlichen Karpaten zurück. Geheimdienstler und andere Finsterlinge trachten ihm nach dem Leben. Mit seiner Geliebten Animé und dem Raben Edgar flieht er nach Griechenland. Erst auf der Gefängnisinsel am Null-Meridian ist Schluss. Dort sendet sein „Radio Nacht“ rund um die Uhr Musik, Poesie und Geschichten in die sich verfinsternde Welt.

Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann als Lyriker. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europäischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. Mit seinen drei Romanen „Rekreacij“ (1992; dt. Karpatenkarneval, 2019), „Moscoviada“ (1993, dt. Ausgabe 2006), „Perverzija“ (1999, dt. Perversion, 2011), die unter anderem ins Englische, Spanische, Französische und Italienische übersetzt wurden, ist er unfreiwillig zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden.

Juri Andruchowytsch: „Radio Nacht“
Übersetzt von Sabine Stöhr
Suhrkamp, 2022. 472 Seiten, 26 Euro.

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