14. März 2024

Die Buchtipps der Schwalbacher Zeitung

Lesestoff

In seinem Roman „Salzwasser“, einer Neuerzählung von Turgenjews Novelle „Erste Liebe“, schildert Charles Simmons einfühlsam den Verlust der kindlichen Unschuld, der die Verwirrungen der ersten Liebe begleitet. „Doktor Garin“ von Vladimir Sorokin ist ein groteskkomischer Roadtrip durch eine posthumane Welt des Chaos und des Krieges, in der es einen einzigen Gewinner gibt: die Liebe. Uwe Wittstock erzählt in „MArseille 1940“ die aufwühlende Geschichte einer Flucht unter tödlichen Gefahren.

 

„Salzwasser“

„Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank“ So beginnt die Erzählung über einen Sommer, an dessen Ende nichts mehr so ist wie zuvor: Wie jedes Jahr verbringt der fünfzehnjährige Michael die Ferien mit seinen Eltern am Atlantik. Doch diesmal gibt es eine Veränderung, denn in dem benachbarten Gästehaus zieht die verführerische Mrs. Mertz mit ihrer zwanzigjährigen Tochter Zina ein. Die Andersartigkeit und Offenheit, die die beiden Frauen umgeben, faszinieren nicht nur Michael. Augenblicklich verliebt er sich in die schöne Zina und ist ihren Kaprizen hoffnungslos ausgeliefert. Als er jedoch seine romantischen Gefühle ihr gegenüber auf die grausamste Art und Weise verraten sieht, bricht für ihn die unschuldige Welt seiner Kindheit zusammen, und es kommt zum tragischen Ende eines Sommers.

In der Neuerzählung von Turgenjews Novelle „Erste Liebe“ schildert Simmons einfühlsam und fast ein wenig wehmütig den Verlust der kindlichen Unschuld, der die Verwirrungen der ersten Liebe begleitet. Den Hintergrund dazu bilden die Farben und Stimmungen eines Sommers am Meer.

Charles Simmons, (1924 – 2017) war Redakteur der New York Times Book Review. Er lebte und arbeitete in New York.

Charles Simmons: „Salzwasser“
Übersetzt von Susanne Hornfeck
C.H. Beck, 2024. 143 Seiten, 14 Euro.

 

„Doktor Garin“

Doktor Garin hat den „Schneesturm“ überlebt und ist zehn Jahre später Chefarzt auf Titanfüßen von einer psychiatrischen Klinik im Altaigebirge. Hier residieren die sogenannten political beings – Donald, Wladimir, Emmanuel und Angela, Silvio, Shinzo, Boris und Justin – in Luxussuiten. Was sie alle verbindet: Sie essen, hüpfen, denken und sprechen mit dem Hinterteil. Und sind geplagt von komplexen Neurosen. Doktor Garin gelingt es, sie mit seiner speziellen Schocktherapie zu beruhigen. Er will die Menschheit heilen, ihre Zombifizierung verhindern in einer posthumanen Welt, in der es von künstlichen Wesen mit invalidem Körper und Geist nur so wimmelt. Dabei steht ihm seine Assistentin und Geliebte Mascha fest zur Seite. Bis erneut eine Atombombe fällt, das Sanatorium ausradiert wird und der Doktor und sein Team gigantische Bioroboter aktivieren müssen, um auf ihren Rücken zu fliehen. Eine Odyssee durch eine absurde Welt beginnt, die Garin und Mascha voneinander trennt. Ein dystopischer Abenteuerroman à la Sorokin – verstörend und unfassbar unterhaltsam.

Vladimir Sorokin, 1955 geboren, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie „Die Schlange“, „Marinas dreißigste Liebe“, „Der himmelblaue Speck“. Bei KiWi erschienen zuletzt die Romane „Der Schneesturm“, „Telluria“, die Literaturgroteske „Manaraga“ und der Erzählungsband „Die rote Pyramide“. Sorokin lebt inzwischen in Berlin und hat den dortigen PEN mitbegründet.

Vladimir Sorokin: „Doktor Garin“
Übersetzt von Dorothea Trottenberg
Kiepenheuer & Witsch, 2024. 592 Seiten, 26 Euro.

 

„Marseille 1940“

Juni 1940: Hitlers Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Derweil kommt der Amerikaner Varian Fry nach Marseille, um so viele von ihnen wie möglich zu retten. Uwe Wittstock erzählt die aufwühlende Geschichte ihrer Flucht unter tödlichen Gefahren.

Es ist das dramatischste Jahr der deutschen Literaturgeschichte. In Nizza lauscht Heinrich Mann bei Bombenalarm den Nachrichten von Radio London. Anna Seghers flieht mit ihren Kindern zu Fuß aus Paris. Lion Feuchtwanger sitzt in einem französischen Internierungslager gefangen, während die SS-Einheiten näherrücken. Sie alle geraten schließlich nach Marseille, um von dort einen Weg in die Freiheit zu suchen. Hier übergibt Walter Benjamin seinen letzten Essay an Hannah Arendt, bevor er zur Flucht über die Pyrenäen aufbricht. Hier kreuzen sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller, Künstler. Und hier riskieren Varian Fry und seine Mitstreiter Leib und Leben, um die Verfolgten außer Landes zu schmuggeln. Szenisch dicht und feinfühlig erzählt Uwe Wittstock von unfassbarem Mut und größter Verzweiflung, von trotziger Hoffnung und Mitmenschlichkeit in düsterer Zeit.

Uwe Wittstock ist Schriftsteller und Journalist und war bis 2018 Redakteur des Focus. Zuvor hat er als Literaturredakteur für die FAZ, als Lektor bei S. Fischer und als stellvertretender Feuilletonchef und Kulturkorrespondent für die Welt gearbeitet. Er wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis für Journalismus ausgezeichnet.

Uwe Wittstock: „Marseille 1940“
C.H. Beck, 2024. 351 Seiten, 26 Euro.

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