24. Februar 2022

Die Buchtipps der Schwalbacher Zeitung

Lesestoff

In seinem neuen Roman „Creep“ wagt Philipp Winkler einen Blick ins dunkle Herz der Hypermoderne. In Sybille Heins „Eure Leben, lebt sie alle“ geht es um Frauen, die kurzzeitig aus der Spur geraten sind. Hendrik Bolz erzählt in „Nullerjahre“ von einem Jahrzehnt im Osten Deutschlands, das uns ein Stück bundesrepublikanische Gegenwart erklären kann.

 

„Creep“

Sie kennen uns, denn sie beobachten uns. Und wir lassen sie in unser Zuhause, teilen online unsere intimsten Gedanken und Bilder.  In seinem zweiten Roman nach seinem gefeierten Debüt „Hool“ erzählt Philipp Winkler die Geschichten von Fanni in Deutschland und Junya in Japan – beide suchen im Leben fremder Menschen, woran sie sonst verzweifeln: Kontrolle, Zugehörigkeit, Befreiung. Dabei überschreiten sie Grenzen, die für sie schon längst nicht  mehr gelten. „Creep“ ist ein so berührender wie unerbittlicher Roman darüber, wie uns die Hypermoderne deformiert und wozu wir bereit sind, um der Dunkelheit – in uns – zu entkommen.

Philipp Winkler, 1986 geboren, aufgewachsen in Hagenburg bei Hannover. Studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim. Für seinen Debütroman „Hool“ erhielt er den ZDF aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war zum Festival Neue Literatur in New York eingeladen. Der Roman war ein Spiegel-Bestseller, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Eine Verfilmung ist in Vorbereitung. Er lebt in Niedersachsen auf dem Land.

Philipp Winkler: „Creep“
Aufbau Verlag, 2022. 342 Seiten, 22 Euro.

 

„Eure Leben, lebt sie alle“

Wer hat noch mal das Gerücht in die Welt gesetzt, dass man in der Mitte des Lebens auch in der Mitte von sich selbst angekommen ist?

Ellen setzt den Abgründen ihrer Patienten immer bessere Rezepte entgegen, aber die eigenen werden zu Treibsand unter ihren Füßen. Freddy fragt sich, ob der enorme Umfang ihres Körpers die einzig sichtbare Größe in ihrem Leben darstellt. Luise verpfuscht ihre Bilderbuchfamilie, Johanna springt. Und Marianne? Der Grand Dame dieser Schicksalsgemeinschaft kriechen alte Geister durchs Schlüsselloch. Allen voran ihr früh verstorbener Sohn Jonas, der auch im Leben der anderen einmal eine große Rolle gespielt hat. Wie jede dieser fünf Frauen mit verrutschten Gewissheiten ringt, davon handelt dieser Roman.

Sybille Hein, in Niedersachsen geboren, studierte Philosophie und Illustration und tourte viele Jahre mit ihren Kabarettprogrammen über die Bühnen der Republik. Heute schreibt sie Bücher für Große und Kleine, Hörspiele, satirische Texte und subversive Lieder. Sie verträgt immer weniger Rotwein – verrückte Gedanken, Geschichten und menschliche Abgründe dafür umso besser.

Sybille Hein: „Eure Leben, lebt sie alle“
dtv Verlag, 2022. 336 Seiten, 20 Euro.

 

„Nullerjahre“

Hendrik Bolz ist in Stralsund aufgewachsen, im nordöstlichsten Winkel Deutschlands, in einer Welt, die, obwohl das Land längst nicht mehr „DDR“ heißt, wenig mit dem zu tun hat, was im Westen als Normalität durchgeht. Lediglich das RTL-Nachmittagsprogramm, das im Hintergrund zu hören ist, deutet darauf hin: Es sind dieselben Nullerjahre.

Während in den Plattenbauten von Knieper West immer mehr Erwachsene die Suche nach einem Platz im neuen System aufgeben, nehmen Hendrik und seine Freunde die Herausforderung an: Sie finden Auswege aus der Langeweile und Fluchtwege, um keine Prügel zu kassieren. Langsam zerfallen die Frontlinien der Baseballschlägerjahre, an die Stelle der Springerstiefel treten Turnschuhe, die Böhsen Onkelz werden von Aggro Berlin abgelöst, die Optionen bleiben die gleichen: Fressen oder Gefressenwerden.

Im Kindergarten, in der Schule und im Fußballverein haben sie gelernt, dass ein großer Junge nicht weint und dass der Klügere nur so lange nachgibt, bis er der Dümmere ist. Nun gilt es, härter zu werden, um, wenn es drauf ankommt, dem anderen die Nase zu brechen. Und stumpfer zu werden, um dabei nicht zu zögern. Die Mittel finden sich – Kraftsport, Drogen, Rap. Und bald sind es neue „Kleine“, die sich verstecken müssen.

Hendrik Bolz, geboren 1988 in Leipzig, zog Ende der Nullerjahre von Stralsund nach Berlin, wo er ein Studium in den Sand setzte, in der Redaktion der Internetseite rap.de arbeitete und schließlich beschloss, selbst Rapper zu werden. Heute bildet er eine Hälfte der Band Zugezogen Maskulin und ist Host des Podcasts „Zum Dorfkrug“.

Hendrik Bolz: „Nullerjahre – Jugend in blühenden Landschaften“
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2022. 336 Seiten, 20 Euro.

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