19. Februar 2020

Leserbrief

„Morgen ist die Ewigkeit“

Zu den Leserbriefen in der Ausgabe vom 12. Februar erreichte die Redaktion nachfolgender Leserbrief von Herbert Ochs. Leserbriefe geben ausschließlich die Meinung ihrer Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich Kürzungen vor. Wenn auch Sie einen Leserbrief veröffentlichen möchten, senden Sie ihn unter Angabe Ihrer vollständigen Adresse und einer Rückruf-Telefonnummer an info@schwalbacher-zeitung.de.

Alle Menschen, denen das scheinbar unendliche Wachhalten an den Nationalsozialismus in dieser Dosis gerechtfertigt scheint, sollten einmal darüber nachdenken, ob nicht gerade dieses stetige „Salz in die Wunde streuen“ letztlich der Auslöser für den aktuell zunehmenden Antisemitismus ist.
Oder anders formuliert: Wie wird sich wohl ein Kind entwickeln, dem man ebenso gebetsmühlenmäßig die etwaigen Missetaten seines Vaters oder Großvaters vorwirft? Sind dann diese vorwurfsvollen Menschen am Ende nicht selbst schuld daran, wenn dieses selbe Kind ihnen später ein Messer in den Rücken rammt? Ist für diese Diagnose wirklich erst ein Tiefenpsychologe notwendig, oder könnte uns diese Erkenntnis unter Umständen auch der gesunde Menschenverstand schon instinktiv zuflüstern?
Darüber hinaus müssten wir auch bereit sein, alle anderen Gräueltaten der Menschheitsgeschichte ständig am Leben zu erhalten, denn schließlich besteht unsere Geschichte aus nichts anderem. Und vergessen wir auch in diesem einschlägigen Zusammenhang nicht den unter einem anderen Kreuz geheiligten „Urvater“ namens Martin Luther, derjenige nämlich, welcher als personifizierter Antisemitismus Hitler erst die Steilvorlage geliefert hat. Wo befinden sich die ewigen Gräber dieser Opfer der unter diesem Kreuz bestialisch zu- und hingerichteten Menschen? Müssten wir selbige nicht genauso in ewiger Erinnerung behalten? Oder präziser hinterfragt: Wer bestimmt Zeitraum, bis wann wir uns an einen Tatbestand einerseits erinnern müssen und ab wann wir einen Tatbestand andererseits vergessen dürfen?
Fest steht: Jeder muss das Recht haben sich ebenso erinnern wie auch vergessen zu dürfen – und zwar ganz individuell und ohne äußere verabreichte Staats-Doktrin. Denn ohne auch vergessen zu können, sind wir gar nicht zukunfts- oder überlebensfähig, jedenfalls nicht ohne dauerhaften psychischen Schaden zu nehmen. Dementsprechend gilt, was die ehemalige amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Gwen Bristow (1903-1980) in ihrem 1972 erschienenen Roman „Morgen ist die Ewigkeit“ einem aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrten in den Mund gelegt hat: „Der Blick nach rückwärts ist ein sicherer Weg zur Selbstzerstörung. Schauen Sie, dieses weltweite Unheil, das über uns gekommen ist und das wir zur Zeit durchstehen müssen (gemeint ist der Beginn des zweiten Weltkrieges), kommt nicht zuletzt daher, dass ein Teil der Welt an der Vergangenheit klebt und den Weg in die Zukunft scheut.“
Die Geschichte besteht aus einer einzigen nahtlosen Aufeinanderfolge und Verkettungen von Ursachen und ihren Wirkungen und nicht aus isolierten sowie fragmentierten Einzelepisoden. Die Zeit bleibt nicht stehen und stellt uns für immer neue Herausforderungen, die in ihrer Geschwindigkeit sowie globalisierenden Komplexität ihr geschichtliches Beispiel sucht.
Deutschland ist gerade dabei den Zukunftszug zu verpassen, indem wir ständig mit uns und unserer Vergangenheit beschäftigt sind. Blicken wir also lieber nach vorne. Wir müssen unsere Verzweiflung überwinden sowie darauf hoffen unsere Fehler nach einem gewissen Zeitraum der Reue auch von den Geschädigten verziehen zu bekommen, bevor wir dieselben bösen Geister aus der Vergangenheit wieder zu neuem Leben erwecken – wie es zur Zeit geschieht.
Die Evolution hat uns nicht zuletzt durch die Position der Augen eindeutig klar gemacht wo vorne ist, wo unsere Zukunft liegt, nämlich im morgen – denn Morgen ist die Ewigkeit.

Herbert Ochs,
Schwalbach

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